Der zündende Funke entsprang nicht dem Zufall. Dass die ersten Bilder der Werkgruppe »Out of Focus« New York zum Motiv haben, trägt viel mehr symptomatische Züge. Nach längerer Zeit hatte die Fotografin Nicole Hollmann die Metropole an der amerikanischen Ostküste besucht.
Der 11. September 2001, als die Zwillingstürme des World Trade Center nach einem Terrorangriff in Schutt und graue Asche fielen und Tausende von Menschen mit sich rissen, 9/11, war ein Schnitt. In vielerlei Beziehung, wie für viele Besucher aus Europa, und aus den unterschiedlichsten Gründen. Zum ersten Mal war Nicole Hollmann wieder für mehrere Wochen hier. Neuerlich überwältigt von der Energie und Vitalität der pulsierenden City, von ihrer »elektrisierenden Atmosphäre« (Irving Penn).
Als sie ihre Eindrücke fotografisch festhalten wollte, sah sie sich, vielleicht ganz plötzlich, vor ein unerwartetes Problem gestellt. »Ich suchte nach einer Möglichkeit, meine Eindrücke, die weit über die rein visuelle Faszination hinausgingen, mit meinem Medium, der Fotografie, abzubilden. Es galt, einen Weg zu  finden, mehr zu zeigen als das vordergründig Sichtbare.« Was sie auf einmal – offensichtlich mit anderen Augen als zuvor – erblickte und empfand, ließ sich, so spürte sie bald, im Modus einer konventionellen fotografischen Darstellung nicht wiedergeben.
Die kreative Herausforderung bestand für sie darin, die überwältigende Fülle visueller und emotionaler Sinnesreize in eine adäquate Form zu fassen. Den künftigen Betrachtern ihrer Bilder sollte ein Wahrnehmungserlebnis, das sie nicht zuletzt tief in ihrem Körper erfuhr, ähnlich dicht und intensiv vergegenwärtigt werden; unbeschadet des Verlustes, den jede Vermittlung zwangsläufig bedeutet.
Sie musste eine Bildsprache  finden, die aufseiten der Betrachter eine vergleichbare Reaktion auslöst, jenes »Aufleuchten eines Aspekts« bewirkt, von dem Wittgenstein spricht, um eine Veränderung der individuellen wie kollektiven Wahrnehmungsgewohnheiten anzustoßen.
Dazu bedarf es der Einsicht, dass selbst fotografische Bilder eigenen Gesetzen gehorchen und eher Realität schaffen als Realität abbilden. Auch die Fotografie ist ein Umspannwerk. In den Worten von W. J. T. Mitchell: »Bilder sind nicht einfach passive Wesen. Sie verändern die Art, in der wir denken, sehen und träumen.
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Der Motor und Träger dieses Transfers ist die Farbe. Die Reduzierung des formalen Repertoires befähigt die Farbe zur eigenständigen Wirkung. Nicht von ungefähr übernimmt das Rot die Vorreiterrolle. Bereits das kräftig leuchtende Rot eines Reklamebaldachin über dem grellen Gelb des Yellow Cab in New York (NYC 5 YCRS, siehe Seite 19) entfaltet eine ungeheuer physische Vitalität. Überall, wo das Rot auftaucht, ist es Anziehungspol und Ausstrahlungszentrum.
Das Rot ist die Farbe des Blutes, »der Materie par excellence«, und verkörpert nach dem Renaissance-Theoretiker und Maler Lomazzo den »Ursprung des ›Geistes‹ und die ›Schärfe‹ im Blick«.
Im Inkarnat der Malerei pulsiert denn auch das Lebendige. Nicole Hollmann ist bestrebt, auf der Haut (Oberfläche) des Fotografischen ein Echo jenes Begehrens zu bewahren, das die Kommerzfotografie in unaufhörlicher Wiederholung mit faden Surrogaten neutralisiert.
Kunstkritiker und Kurator. Studierte Soziologie und Geschichte in Köln.
1965-1970 Redakteur und Ressortchef bei den Aachener Nachrichten, 1970-1974 Direktor des Westfälischen Kunstvereins, Münster, und 1974-1999 Ausstellungsdirektor des »LVR-LandesMuseums Bonn«. 1970 war Klaus Honnef Kurator von »Umwelt-Akzente« in Monschau, der ersten Außenkunst-Ausstellung der Welt. 1972 war er Mitorganisator der documenta 5 in Kassel ebenso wie 1977 bei der documenta 6. 1980- 2004 lehrte Klaus Honnef als Professor für Theorie der Fotografie an der Kunsthochschule Kassel. Seit 2000 freier Kurator, Lehrbeauftragter, Kunstberater und Autor. Klaus Honnef ist Träger des »Chevalier de l'ordre des arts et des lettre« der französischen Republik und Träger des Kulturpreises der Deutschen Gesellschaft für Photographie 2011.

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